Zuhause ist überall : Erinnerungen

Coudenhove-Kalergi, Barbara, 2012
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Exemplare gesamt 1
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Medienart Buch
ISBN 978-3-552-05601-5
Verfasser Coudenhove-Kalergi, Barbara Wikipedia
Systematik BB - Autobiographien,Briefe,Tagebücher,Reden
Verlag Zsolnay
Ort Wien
Jahr 2012
Umfang 332 S. : Ill.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Barbara Coudenhove-Kalergi
Annotation Erinnerung und Analyse Barbara Coudenhove-Kalergis "Zuhause ist überall" Die Autorin hat ihrem Buch den Gattungstitel Erinnerungen gegeben, und der erste Teil des Buches entspricht den Erwartungen, die sich daran knüpfen. Naturgemäß finden sich die emotionalsten Seiten zu Beginn des Buches, wo die Kindheitserinnerungen ihren Platz behaupten; Erinnerungsbilder und Photographien aus dem Familienalbum machen hier den Rhythmus des Buches aus, das alte Prag der Zwischenkriegszeit wird lebendig, und manchmal gewinnt die kindliche Perspektive die Oberhand, etwa wenn sich die kleine Barbara aus Abscheu vor der Jagd weigert, Begriffe aus der Waidmannsprache auszusprechen und ohne Abendessen ins Bett geschickt wird. Das Buch öffnet hier das Panorama auf eine alte deutschböhmische Adelsfamilie, von der der Autorin besonders die Brüder ihres Vaters des Erzählens wert sind. Der eine, Richard, der seinen Namen Richard Wagner verdankt, hier aber lieber "Dicky" genannt wird, war berühmt geworden durch seine antitotalitäreVision einer Paneuropa-Union (er hat in den fünfziger Jahren auch seine Erinnerungen veröffentlicht, in denen er stolz darauf verweist, dass Goethe einst einer Gräfin Coudenhove den Hof gemacht hat). Die Nichte weiß dagegen, dass Thomas Mann einmal im Tagebuch notiert hat, dass Richard "einer der schönsten Mensch" gewesen sei (21. I. 1926); Mann protokolliert aber auch dessen Plan, aus Wien "eine europäische Centrale, die Hauptstadt eines euro­päischen Deutschtums" zu machen (27. IV. 1935). Der andere, Hansi, "ein Exzentriker von Gnaden", Bohèmien und Surrealist, hat als Schüler im ­Wiener Theresianum einst verkündet, dass er nicht in den Himmel kommen wolle, wo die Langweiler versammelt wären, sondern in die Hölle, wo man immerhin Gesprächspartnern wie Vol­taire und Nietzsche begegnen würde. Hansi ist Autor eines weniger gelehrten denn exzentrischen Menschenfresserromans, Ich fraß die weiße Chinesin, der einst unter dem Pseudonym Duca di Centigloria erschienen ist. Hansi und Dicky werden "die Japaner" genannt, weil sie noch in Japan zur Welt kamen. Ein besonderes Augenmerk gilt, wie auch in den Erinnerungen von Richard, der Großmutter Mitsuko Aoyama, einer jungen Frau aus Japan, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit dem Großvater der Autorin, einem Diplomaten, nach Europa übersiedelte; über sie gibt es in Japan sogar ein Musical und eine graphic novel. Und dann ist da der eigentliche Familienkreis, wir stoßen auf ein Photo aus den dreißiger Jahren mit einer strahlenden Mutter, umgeben von ihren Kindern (und überhaupt spielen Photographien eine nicht unwesentliche Rolle in dem Buch, nicht nur die dort abgebildeten), erzählt wird aber von einer verdoppelten oder abgespaltenen Mutter: der leibhaftigen, die von ihren Kindern "Exzellenza" genannt wird und auf dem Photo abgebildet ist, und der "Kindsfrau" Ria, der als der "Allerwichtigsten" die ersten Sätze der Erinnerungen gelten. Über den Vater schreibt sie ein wenig spöttisch, dass er nach dem Zusammenbruch der Monarchie alsbald in die Dienste der japanischen Gesandtschaft in Prag trat: "Jetzt hatte er wenigstens wieder einen Kaiser als obersten Dienstherr." Die Vertreibung im Mai 1945 schließlich kulminiert in einem bemerkenswerten, ja unheimlichen Absatz: "Aber das schönste ist, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben den ganzen Tag mit meinen Eltern zusammen sein kann. In diesen Tagen lerne ich meine Mutter erst richtig kennen. Und bin glücklich." Im zweiten Teil des Buches ist die Autorin diesen Erinnerungswelten entwachsen, sie ist erwachsen worden, und ihr politischer Blick ist erwacht, ihre analytischen Sinne sind geschärft. Schon im ersten Teil gibt es einige Abschnitte, die auf diese zweite Hälfte einstimmen, in denen die Ortung der Deutschböhmen oder, wie der Vater sagte: der "Böhmen deutscher Zunge" im tschechischen Umfeld beschrieben wird - man war eine Minderheit in einem kulturellen Ganzen, aber kein Teil von ihr, und man war, in den Worten des Vaters "eine ausgestorbene Spezies, wie das Mammut". Dann, im zweiten Teil, beschreibt sie die Geburt des neuen, "kleinen" Österreich. "Wir sind klein, unser Herz ist rein", heißt das Leitmotiv der staatsbürgerlichen Erziehung in jenen Jahren, in der man soviel Abstand wie möglich zu Deutschland halten will und so viel wie möglich zu verdrängen sucht. "Ich komme mir vor, als sei ich plötzlich ins Zwergenland versetzt. Ein ziemlich spießiges Zwergenland noch dazu." Sie schildert das kollektive Schweigen über das nationalsozialistische System bis weit hinein in die sechziger Jahre, was auch in der Presse funktionierte (damit haben wir nichts zu tun sei damals ein "österreichisches Leitmotiv" gewesen), sie erzählt davon, dass ihr Bericht von einem Aufmarsch von Rechtsradikalen mit Hakenkreuzen anlässlich der Schiller-Feier 1959 nicht erschienen ist ("das große Schweigen regiert"), sie schreibt über die Bedeutung Bruno Kreiskys (und wie langweilig die Sozialdemokraten bis dahin waren), und über den feindseligen Umgang mit den jüdischen Emigranten ("nicht zuletzt [von Seiten] der SPÖ"). Hier finden sich einige Beobachtungen, wie sie anderswo in dieser Pointiertheit nicht zu finden sind, beispielsweise zur Geschichte der österreichischen KP nach 1945, von der es einmal heißt, sie sei "eine Art Reservat des ansonsten verschwundenen Wiener jüdischen Bildungsbürgertums der Vorkriegszeit" geworden. Besonders eindrücklich fällt hier das Porträt von Franz Marek aus, der ins rechte "Feuerlicht" (so sein ursprünglicher Familienname) gerückt wird - kein Zufall, denn die Autorin kannte ihn besonders gut (die Heirat mit Marek hat ihr damals den Titel "die rote Gräfin" beschert). Sie ist aber nicht die einzige, die die Bedeutung von Marek unterstreicht. Eric Hobsbawm hat ihn 2009 im Guardian einen "Helden des 20. Jahrhunderts" genannt. Am Ende hat sich der Charakter des Buches gänzlich verändert, aus den Familienerinnerungen sind Reisebilder und Essays geworden (die zum Teil anderswo schon veröffentlicht waren). Nicht mehr Erinnerungsarbeit, sondern packende Analysen (angereichert durch Tagebuchauszüge), die nebenbei klar machen, was für eine ausgezeichnete Journalistin BCK gewesen ist. Besonders stark, obwohl schon einige Jahre alt, sind die Kapitel über Ostberlin (trotz eines vielleicht zu pauschalen Urteils über die DDR-Opposition), über Danzig, Warschau und die Solidarnosc, und über die neue Tschechoslowakei. Am Ende schließt sich der Kreis mit der Rückkehr nach Prag, nach 1989, die die Autorin als Leiterin des osteuropäischen Büros des ORF unternommen hat. Ob Zuhause ist überall der präzise Titel ist, wird man sich nach der Lektüre des ganzen Buches vielleicht fragen, aber um so gewisser ist man, bei der fesselnden Lektüre eine Menge gelernt zu haben. *Literatur und Kritik* Michael Rohrwasser

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